Publizierte Kolumnen
(Auswahl)
To-Do-Liste fürs Leben
Nach dem Prinzip “Man lebt nur einmal” erstellen viele Menschen einmal im Leben eine ganz besondere Liste. Titel: “Zehn Dinge, die ich in meinem Leben noch machen möchte.” Ganz subjektiv, im Wahn oder bei einem Glas Rotwein, lässt sich da allerhand draufkritzeln. Zum Beispiel: Eine Liste erstellen mit den neun Dingen ...
Die Liste kann auch beliebig erweitert werden. Fünf oder sechs Vorsätze mehr bereichern das Leben, solange die Punkte laufend abgearbeitet werden. Entsteht wegen unerledigter Dinge nämlich ein schlechtes Gewissen, landet die Liste womöglich schon nach einem halben Jahr im Abfall.
Auch scheinbar unattraktive Pläne können das Leben verändern. Es gibt ja die Geschichte des Mannes Mitte 40, der an einem Sonntagmorgen das Fussballspiel der dritten Mannschaft besuchte. Er stand als Zuschauer alleine am Spielfeldrand, weil sich keiner für die Partie interessierte. Als er das grosse Talent eines jungen Einwechselspielers erkannte, funktionierte er sich zum Spieleragenten um. Und wurde binnen dreier Jahre Millionär.
Ebenfalls von Vorteil ist es, zwischendurch einen etwas leichteren “Auftrag” in die Liste einzubauen. So verschafft man sich Luft für die wirklich grossen Herausforderungen. Sehnsüchte und Wünsche verändern sich im Leben. Demnach ist es gut möglich, dass bereits nach der ersten Erledigung neue Türen aufgehen. Wie im Fall des 20-jährigen Hochstaplers Nicolás. Er hatte sich in Spanien anfangs als Berater der Regierung, dann als Mitarbeiter des Geheimdienstes ausgegeben. Am Schluss war “der kleine Nicolás” sogar auf Fotos beim Händedruck mit König Felipe VI zu sehen. Letztes Wochenende wurde der Betrüger gefasst.
Immer was los hier
Hier, im kleinen Klublokal, ist immer was los. Die Rauchschwaden hängen tief. Auch Jordi und Fernando sind da. Sie hatten sich den miserablen
Auftritt des Heimteams im Regen angesehen. 0:4 gegen den Erzrivalen, schlimm war das. Jordi zündet sich eine Zigarette an und bestellt zwei Gläser. Fernet Branca, das hilft.
Auf einmal wird es ruhig im Lokal. In der Tür steht der massige Heimcoach im Regenmantel. Er blickt grimmig in die Runde, streift kurz den Dreck von seinen Gummistiefeln und marschiert zur Theke. “Beim letzten Mal hat er eine halbe Stunde lang kein Wort geredet”, flüstert einer.
Seine Brandrede beginnt beim dritten Bier. Man könne sich nun auf ein neues Team gefasst machen, schimpft er. So nicht! Er sei seit zwanzig Jahren im Geschäft. “Es gibt Straftrainings! Ich miste aus!”, schreit er zum Schluss und setzt sich. Die Leute im Lokal applaudieren. Dann fliesst das Bier, ein wenig später macht die Flasche Fernet Branca die Runde. Es wird gelacht und getanzt. Gegen Mitternacht singt der Coach Karaoke.
Es ist immer etwas los hier. Auch zwei
Wochen später am Spielfeldrand. Jordi und Fernando sind gekommen. Weiter vorne schreit und fuchtelt der Coach. Er hat die genau gleiche Mannschaft wie im letzten Heimspiel aufgestellt.
Der Storyteller
Wenn Journalisten unter Druck geraten, endet das manchmal im Leichtsinn. Davon hatte Rudi schon als Kind gehört. Nun ist Rudi erwachsen und selbst Journalist. Sein Vater wollte das so. “So fährt dein Schiff immer in ruhigen Gewässern, mein Sohn.”
Ruhig sind die Gewässer schon lange nicht mehr. Es herrscht sozusagen Dauersturm im Printbereich. Und bei Rudi, der den Druck eben gar nicht mag, fallen die Telefonate nicht immer so aus, wie er sich das erhofft. Die Protagonisten sind schwer zu erreichen. Die Informanten widersprechen sich. Wenn aber die Story schon steht und das Raunen der Kollegen an der Sitzung noch in seinen Ohren liegt (“Wow, heisse Story ...”), dann hilft Rudi manchmal ein bisschen nach. Er zimmert sich die Artikel selbst zurecht. Gerade an Wochenenden geschieht das oft.
Aber man muss an dieser Stelle den Journalisten auch mal in Schutz nehmen. Wenn sich die Freunde beim Grillen am See vergnügen, ist es nicht einfach, in den miefigen Redaktionsräumen einen klaren Gedanken zu fassen. Dazu die ausbleibenden Rückrufe, der schlechte Filterkaffee, die leeren Gänge. Das ist alles zäh.
Deshalb hat sich Rudi jetzt intern transferieren lassen. Freiwillig! – wie er bei jedem Smalltalk ausdrücklich erwähnt. Rudi der Wirtschaftsreporter ist jetzt Rudi der Sportreporter. “Im Fussballstadion kannst du nicht viel falsch machen”, hat ihm der Chefredakteur in einem Gespräch unter vier Augen gesagt. “Zur Not, wenn die Spieler nach einer Niederlage die Krise schieben und nicht reden wollen, dann schreibst du einfach, was auf dem Feld geschehen ist.”
Rudi macht das alles Spass. Und wenn der Druck doch mal zu gross wird, hat er immer noch seinen eigenen Blog, auf dem er schreiben kann, was er möchte. Da ist immer was los. Selbst wenns nichts geschehen ist.
Von Bichsels und Netzers
See you. Bis später. Mach’s gut. Es gibt viele Ausdrucksformen, wie man sich am Ende einer E-Mail oder eines Telefonats verabschieden kann. Sie klingen, je nach Absender, Tonlage und Kreativität nett, herzlich, aber auch beliebig, billig, ordinär. Oder war’s doch freundlich gemeint?
Es ist vielleicht die Geschwindigkeit, mit der wir durch die Welt rasen. Wir kommunizieren und arbeiten, als gäbe es kein Morgen mehr. Und wenn der Morgen kommt, denken wir an übermorgen. An das wichtige Meeting, an das nächste Fussballspiel. Wer soll da noch ernsthafte Rückschlüsse ziehen, weshalb eine Unterhaltung mal etwas netter oder forscher endet? Man nimmt es einfach hin. Für mehr fehlt die Zeit oder das Gespür – oder beides.
Ausnahmen gibt es: Peter Bichsel ist ein Beispiel. Der Schweizer Schriftsteller zelebriert die Langsamkeit und die Langeweile. Wer die Gelegenheit hat, mit ihm durch Solothurn zu spazieren, wird erleben, dass Bichsel jedes Mal stehen bleibt, wenn er spricht. Er gibt dem Gespräch Zeit und dem Inhalt Gewicht. Oder Günter Netzer: Beim Telefongespräch mit dem ehemaligen Fussballstar erfasst einen die Ruhe. “Ich grüsse Sie”, fängt er an. “Ihnen alles Liebe” sagt er zum Schluss.
Das tat Netzer nun fast ein Jahr. Es waren viele Telefonate mit dem Kolumnisten. Manchmal kurz und sachlich, immer aber offen und freundlich. Die Zeit spielte nie eine Rolle. Und natürlich brachte er gern mal einen Spruch. Der verregnete Sommer in der Schweiz ging gerade in seine dritte Runde, als sich Netzer aus dem sonnigen Südfrankreich meldete: “Jeder bekommt eben, was er verdient”, sagte er.
Auch wenn es manchmal scheint, als renne die Zeit uns davon, wissen wir, dass sie nie schneller läuft. Günter Netzer wird diesen Sonntag 70 Jahre alt. Feiern wird er seinen runden Geburtstag nicht anders, als die anderen Geburtstage, wie er sagt. Es könnte nur sein, dass ihm der Tag, an dem ihm die halbe Fussballwelt gratulieren will, etwas länger vorkommt. Man darf dann das Gespräch auch mal umgekehrt eröffnen: “Ihnen alles Liebe”.