Leseprobe

Die normale Geschichte des Toni Geiser 

(Telegramme Verlag, 2023)

Schon in der Zeit, als meine Beziehung mit Julia nochmals aufflammte, hatte ich das Bedürfnis gehabt, Isabelle wiederzusehen. Stattdessen traf ich Julia und suchte nach der leichten und gelassenen Stimmung, die ich von Isabelle her kannte. Ich roch an Julias Haut und war enttäuscht, dass ihr Duft nichts in mir auslöste. Nach dem Sex redeten wir kaum. Sie duschte, während ich im kleinlich eingerichteten WG-Zimmer meinen Gedanken nachhing und rauchte.


Um Isabelle aufzusuchen, fehlte mir der Mut. Ich hätte nicht die richtigen Worte gefunden, womöglich hätte ich gar keine gefunden. Allein die Vorstellung, dass Isabelle meinen Namen auf dem Display las und das Telefon deswegen zur Seite legte, machte mir Angst. Ich fürchtete mich vor der Abweisung, und ich schämte mich dafür, was geschehen war.


»Woran denkst du eigentlich die ganze Zeit?«, fragte Julia neulich, als sie vom Duschen zurückkam. In der WG-Küche saßen Leute, ich hörte ihr Gelächter. »Früher warst du nicht so nachdenklich«, sagte sie und frottierte ihr Haar. Ich blies den Rauch aus und versuchte, ernst zu schauen. Mein Vater kam mir in den Sinn, er wirkte auf allen Fotos ernst und nachdenklich.

Als ich nicht antwortete, kehrte sie mir den Rücken zu, wühlte in der Schublade mit der Unterwäsche und zog einen Slip heraus. »Ich gehe noch auf ein Bier zu den anderen. Kommst du auch?«


Sie verließ das Zimmer, und ich sah mich um. An der Wand über der Kommode hing ein Bild, eine eingerahmte Zeichnung. Die Zahlen des digitalen Weckers leuchteten rot. Am Küchentisch warteten sie auf mich, ich hörte meinen Namen. Aber mir war nicht nach Gesellschaft zumute und schon gar nicht nach Julias Studienfreunden, die mir viele Fragen stellten und darauf aus waren, sich über meinen Job als Barmann lustig zu machen und nicht verstanden, weshalb ich die Zeit nicht fürs Studium nutzte.


Ich schritt nackt zum Fenster. Durch den dünnen Vorhang sah ich Jugendliche, die den Straßenrand entlangschlenderten. Sie waren in Lorenz’ Alter und hielten Bierdosen in der Hand. Kam ein Auto, wichen sie auf den Gehsteig aus und wechselten dann wieder auf die Straße. Es war dunkel, gleich würde es regnen. Ich sammelte meine Kleider ein, die am Boden lagen, und zog mich an. Dann kippte ich das Fenster, steckte mir nochmals eine Zigarette an und öffnete den Mes- senger auf meinem Smartphone. Ich dachte, es wäre ganz leicht, für Isabelle die richtigen Worte zu finden.

 

Eine Woche lang hörte ich nichts. Ich hatte mich schon damit abgefunden, dass es so bleiben würde. Aber dann antwortete sie doch noch. Isabelle bedankte sich für meine Nachricht und erklärte, sie habe die letzten fünfzehn Tage in der Normandie verbracht. Sie schrieb vom rauen Meer, vom Kalkstein und von ihrem Bruder, der sie begleitet hatte und seither Mühe bekundete mit der Werkstätte und dem Wohnheim, weil ihm das Leben und Werkeln im eigenen Haus so viel Spaß gemacht hatte.